Immer auf der richtigen Seite | NZZ (2024)

Die Rolle des Anwalts Atticus Finch in der Verfilmung von Harper Lees Roman «To Kill a Mockingbird» war die seines Lebens. Sie entsprach Gregory Pecks integrem Charakter. Doch er konnte auch anders.

Christina Tilmann

Drucken

Immer auf der richtigen Seite | NZZ (1)

Als die amerikanische Autorin Harper Lee am 19. Februar dieses Jahres im Alter von 89 Jahren starb, war er noch einmal vielfach präsent: Gregory Peck, der in der Verfilmung von Lees Bestseller «To Kill a Mockingbird» (1962) mit Atticus Finch die Rolle seines Lebens spielte – als Südstaaten-Anwalt, der einen fälschlich der Vergewaltigung angeklagten Schwarzen verteidigt. Was hätte Peck, der immer betont hat, wie vertraut ihm als Sohn eines Kleinstadt-Apothekers diese von Harper Lee geschilderte Welt war, dazu gesagt, dass 2015, ein Jahr vor ihrem Tod, mit «Go Set A Watchman» die verworfene Erstversion des Romans veröffentlicht wurde, in der jener Atticus Finch eine wesentlich ambivalentere Rolle spielt, als Teilnehmer rassistischer Versammlungen in Alabama?

Gregory Peck glaubte sich mit Atticus Finch auf der richtigen Seite: Als dem populären und auch politisch integren Schauspieler 1963 von Sophia Loren für diese Rolle der Oscar für den besten Schauspieler überreicht wurde, trug er in der Hand eine goldene Uhr, die Harper Lee ihm als Talisman überlassen hatte – ihr Vater, nach dessen Modell die Autorin Atticus Finch formte, hatte sie 35 Jahre lang im Gerichtssaal getragen. Die Rolle des verwitweten Anwalts, der versucht, seinen beiden Kindern Jeff und Scout ein Vorbild zu sein, und der vor Gericht so leidenschaftlich für Gerechtigkeit und Gleichheit plädiert, war wie zugeschnitten auf den immer etwas hölzern wirkenden Beau, dessen eindrucksvolle Grösse von 1 Meter 90 und dessen melodische Baritonstimme bestens zur Geltung kommen, wenn er am Ende des Films so eindringlich wie skrupulös plädiert, mit langen Gedankenpausen, und schliesslich die Geschworenen beschwört: «Ich flehe Sie an: Tun Sie Ihre Pflicht.»

Bildstrecke:

Bildstrecke Galanter noch als James Bond Als der amerikanische Schauspieler Gregory Peck 2003 verstarb, lobte ihn die NZZ als der «vielleicht schönste Mann, der je auf Breitleinwand zu bewundern war». Am 5. April wäre der Charakterdarsteller 100 Jahre alt geworden.

bgr.

Kein Wunder, dass Gregory Peck, der am 5. April 1916 in San Diego geboren wurde, gern als Fürsprecher und Vertrauensperson eingesetzt wurde. So etwa in Alfred Hitchco*cks «The Paradine Case» (1947) erneut als Anwalt oder an der Seite von Ingrid Bergman in dem Psychothriller «Spellbound» (1945) als Psychiater, der seine Erinnerung verloren hat, den dunklen Blick unter den markanten buschigen Augenbrauen so verquält wie verführerisch – dem Newcomer-Paar Bergman/Peck wurde in Hollywood sofort eine Affäre nachgesagt.

Skandale waren seine Sache nicht – auch wenn er 1955, nur einen Tag nach der Scheidung von seiner ersten Frau, erneut heiratete – diese Ehe mit Veronique Peck hielt bis zu seinem Tod. Ernsthaft, aufrecht, liberal verkörperte Gregory Peck die gute Seite Hollywoods, so diskret in seinem Privatleben wie politisch engagiert, für Martin Luther King Jr. und gegen Vietnam, Schirmherr diverser Wohltätigkeitsveranstaltungen und sogar als Gegenkandidat zu Ronald Reagan im Gespräch. Integer, sympathisch, glaubwürdig und bis ins hohe Alter beunruhigend gutaussehend, könnte Gregory Peck im Vergleich zu Clark Gable oder Gary Cooper geradezu als Langweiler durchgehen – wenn er sich nicht grösste Mühe gegeben hätte, immer wieder erfolgreich gegen seinen Ruf anzuspielen, als rücksichtsloser Verführer von Jennifer Jones in King Vidors Westernepos «Duel in the Sun» (1946), als verbissener Captain Ahab in «Moby Dick» (1956), vor allem aber als leichtsinniger Journalist in William Wylers «Roman Holiday» (1953), in dem er mit Audrey Hepburn als entlaufener Prinzessin eine bittersüsse Kurzzeit-Romanze zwischen Spanischer Treppe und Kolosseum geniesst. Peck soll darauf gedrungen haben, dass Hepburns Name neben seinem im Vorspann genannt wird mit der prophetischen Ansage, sie würde garantiert den Oscar gewinnen, was dann auch tatsächlich eintraf. Die beiden blieben bis zu Hepburns Tod 1993 eng befreundet.

Dass er sich in späteren Jahren bis auf wenige Rollen aus dem Filmgeschäft zurückzog, sich für Tierschutz und gegen Atomwaffen engagierte, passt zu seinem Charakter – doch dass unter seinen letzten Rollen Abraham Lincoln und Joseph Mengele waren, zeigt seine schauspielerische Bandbreite. Als Gregory Peck am 12. Juni 2003 im Schlaf stirbt, betrauert die Filmwelt mit ihm eine Zeit, in der amerikanische Schauspieler die Welt so überzeugend glauben machen konnten, auf der richtigen Seite zu stehen.

Neueste Artikel

Neueste Artikel Alle neueste Artikel
Arbeiten im Rentenalter: 45 Prozent können sich das vorstellen Finanzielle Notwendigkeit ist nicht der Hauptgrund für eine Erwerbstätigkeit im Rentenalter, vielmehr ist es die Freude an der Arbeit. Für Arbeitgeber ist das eine gute Nachricht – und eine Herausforderung.

Christin Severin

4 min

Heftige Gewitter in der Schweiz: Stromausfall im Kanton Schaffhausen, Überflutungen in Liestal und Morges In neun Gemeinden im Waadtland ist das Festnetz ausgefallen. Im Kanton Schaffhausen ist der Strom teilweise weg. Der Luftraum über Genf musste vorübergehend gesperrt werden.

Aktualisiert

2 min

Datenanalyse Für Trump stehen die Chancen besser als vor vier Jahren, doch noch ist alles offen – die wichtigsten Grafiken zur US-Wahl 2024 Im November wird in den USA gewählt. Ums Präsidentenamt streiten sich zwei alte Bekannte. Umfragedaten deuten bereits jetzt auf ein knappes Rennen hin.

Aktualisiert

Nikolai Thelitz

3 min

Interaktiv 40 Prozent des deutschen Stroms stammte vergangene Woche aus fossilen Quellen – Zahlen zur Energieversorgung, täglich aktualisiert Wie wirken sich die Energiewende und die Abkehr von russischem Gas auf die Strom- und Gaspreise aus? Alle Zahlen, tagesaktuell.

Aktualisiert

Simon Haas, Berlin; Nicolas Staub (Karte)

8 min

Kurzmeldungen Polizei-News aus Zürich: Schwerverletzter nach Explosion in Gemeinde Dorf

Aktualisiert

Kurzmeldungen Deutschland: Bahn will laut Medienbericht zahlreiche Fernzüge streichen +++ Antidiskriminierungsstelle registriert Rekord an Anfragen

Aktualisiert

Immer auf der richtigen Seite | NZZ (2024)

References

Top Articles
Latest Posts
Article information

Author: Eusebia Nader

Last Updated:

Views: 5733

Rating: 5 / 5 (60 voted)

Reviews: 91% of readers found this page helpful

Author information

Name: Eusebia Nader

Birthday: 1994-11-11

Address: Apt. 721 977 Ebert Meadows, Jereville, GA 73618-6603

Phone: +2316203969400

Job: International Farming Consultant

Hobby: Reading, Photography, Shooting, Singing, Magic, Kayaking, Mushroom hunting

Introduction: My name is Eusebia Nader, I am a encouraging, brainy, lively, nice, famous, healthy, clever person who loves writing and wants to share my knowledge and understanding with you.